Die LIBER Citizen Science Working Group hat den zweiten Teil ihres englischsprachigen Leitfadens für die Durchführung von Citizen Science Projekten in und durch Forschungsbibliotheken veröffentlicht. Wir sassen mit Stefan Wiederkehr, Chefbibliothekar Spezialsammlungen / Digitalisierung an der Zentralbibliothek Zürich und Mitglied der Begleitgruppe für das Programm Citizen Science Schweiz, zusammen und wollten mehr über die Rolle von Forschungsbibliotheken in Citizen Science und die Arbeit der LIBER Arbeitsgruppe erfahren.
Stefan Wiederkehr Nach Stationen am Deutschen Historischen Institut Warschau, an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und an der ETH-Bibliothek ist Stefan Wiederkehr seit 2020 als Chefbibliothekar Spezialsammlungen / Digitalisierung an der Zentralbibliothek Zürich (ZB) tätig. Der promovierte Osteuropahistoriker trägt an der ZB ausserdem die Gesamtverantwortung für das Handlungsfeld «Citizen Science». |
Was verstehst du unter Citizen Science und wie hat sich dieser Trend in letzter Zeit entwickelt?
Unter Citizen Science verstehe ich die Zusammenarbeit von professionell und ehrenamtlich tätigen Forschenden im gesamten Forschungskreislauf: von der Entwicklung wissenschaftlicher Fragestellungen über die Sammlung, Analyse und Interpretation von Daten bis hin zur Publikation der Ergebnisse. Citizen Science ist in diesem Sinne Teil des umfassenderen Paradigmas von Open Science und zielt auf die Demokratisierung von Wissenschaft. Vor allem in Naturwissenschaften und Medizin handelt es sich um einen aktuellen Trend, um nicht zu sagen einen Hype. In den Geisteswissenschaften, aus denen ich komme, hat Forschung ausserhalb der Universitäten eine lange Tradition. Gelehrte Gesellschaften oder publizierende Lehrerinnen und Lehrer mögen als Stichworte genügen. In jüngster Zeit entstehen aber auch in den Geisteswissenschaften Citizen-Science-Initiativen im hier gemeinten Sinne, in denen hauptamtlich Forschende und Freiwillige zusammenkommen. Die digitale Transformation hat diesen Prozess weiter beschleunigt und bietet gegenüber dem analogen Raum zusätzliche Möglichkeiten der Interaktion.
«In den Geisteswissenschaften hat Forschung ausserhalb der Universitäten eine lange Tradition.»
Welche Chancen bietet dieser Trend den wissenschaftlichen Bibliotheken?
Citizen Science bietet wissenschaftlichen Bibliotheken die Möglichkeit, ihre Bestände auf innovative Art zu vermitteln und gleichzeitig das Wissen über ihre eigenen Bestände und die Qualität der Erschliessung zu verbessern.
Wie können Forschungsbibliotheken Citizen-Science-Initiativen unterstützen?
Für Forschungsbibliotheken sehe ich den Schwerpunkt, soweit es nicht um die eigenen Bestände geht, in der Vermittlung des methodischen Instrumentariums sowie der Bereitstellung von auf Langfristigkeit ausgelegten Tools und stabilen Infrastrukturen. So wird das auch in vielen Bibliotheken, die in der LIBER Citizen Science Working Group vertreten sind, praktiziert. In Zürich gibt es mit dem Citizen Science Center Zürich einen anderen starken Player, der hier einen Schwerpunkt setzt. Seitens der Zentralbibliothek sind wir beim Thema Befähigung der Forschenden deshalb nicht aktiv. Auch Tools ohne Bezug zu unseren Beständen stellen wir nicht zur Verfügung.
Welche praktischen Erfahrungen hat die Zentralbibliothek Zürich mit Citizen Science gemacht?
Unser Engagement hat sich sehr gelohnt. Wir sind auf eine ganz neue Art mit unseren Nutzerinnen und Nutzern in Interaktion getreten und haben, insbesondere in den Crowdsourcing-Projekten, Daten in einem Umfang und einer Qualität generiert, wie dies allein mit unserem Personal nicht möglich gewesen wäre. Bestätigt hat sich die Einschätzung, dass das Community Building und das Community Management entscheidend für den Projekterfolg sind. Wir haben von Anfang an viel in diesem Bereich investiert und würden dies rückblickend auch wieder tun.
«Wir sind auf eine ganz neue Art mit unseren Nutzerinnen und Nutzern in Interaktion getreten und haben Daten in einem Umfang und einer Qualität generiert, wie dies allein mit unserem Personal nicht möglich gewesen wäre.»
In deinem Aufsatz Citizen Science - Eine Chance für wissenschaftliche Bibliotheken schreibst du, Citizen Science ermögliche neuartige Fragestellungen an bekanntem Material. Hast du konkrete Beispiele dafür?
Hier beziehe ich mich zunächst auf die Digitalisierung von Beständen und deren Bereitstellung mit offenen Lizenzen und Schnittstellen, die den zeitlich und räumlich unbeschränkten Zugang sowie die Nachnutzung der Digitalisate ermöglichen. Für Citizen Science erlaubt dies das kollaborative Annotieren, Kontextualisieren und Analysieren von Dokumenten und Objekten, in einer Art, wie sie im analogen Zeitalter undenkbar gewesen wäre. Sehr konkret ist die gemeinsame Erarbeitung eines qualitätsgesicherten und mit Referenzdatenbanken verlinkten Volltextes. So hat etwa das (nicht von einer Bibliothek verantwortete) Projekt Text+Berg die Optical Character Recognition (OCR) seines Textcorpus durch die Crowd korrigieren lassen, um auf der optimierten Datengrundlage weitere Analysen wie die Eigennamenerkennung folgen zu lassen. Wir selbst haben in einem Transkriptionsprojekt die Trainingsdaten für maschinelles Lernen und den Einsatz von Hand-Written Text Recognition als Vorbereitung für eine digitale Edition der Werke Hans Georg Nägelis (1773-1836) erstellen lassen.
Wie trägt Citizen Science zur Umsetzung von Open Science bei?
Ein zentraler Aspekt von Open Science ist die Demokratisierung der Wissenschaft, etwas profaner ausgedrückt: die Überwindung der Mauern des Elfenbeinturms. Das leistet Citizen Science in vorbildlicher Weise. Entsprechend haben wir Citizen Science auch in der aktuellen Strategie der ZB positioniert. Im Übrigen verweise ich gerne auf eine Grafik des Projekts FOSTER (https://www.fosteropenscience.eu/). Open Science ist wie ein Bienenstock ein Ganzes, das sich aus zahlreichen Elementen zusammensetzt:
Quelle: https://www.fosteropenscience.eu/content/what-open-science-introduction
«Die Überwindung der Mauern des Elfenbeinturms:
das leistet Citizen Science in vorbildlicher Weise.»
Wie trägt der Leitfaden zur praktischen Umsetzung von Citizen Science-Projekten bei?
Der Leitfaden ist so angelegt, dass kurze theoretische Inputs mit Best-Practice-Beispielen aus ganz Europa und zum Teil sogar anderen Teilen der Welt kombiniert sind. So kann der Transfer in die eigene Umgebung und die Positionierung der Bibliothek im lokalen Geflecht von Wissenschaft und Zivilgesellschaft vor Ort gelingen.
Welche Rolle spielt das Gemeinschaftsgefühl und der Kontakt zu Gleichgesinnten bei der Beteiligung von Citizens an Citizen-Science-Projekten?
Das ist aus meiner Sicht zentral für die Motivation der Citizen Scientists. Wenn Projekte, wie gerade unsere eigenen, überwiegend im digitalen Raum stattfinden, ist es wichtig, den sozialen Austausch zu ermöglichen und die aktiven Citizen Scientists auch einmal vor Ort zusammenzubringen, etwa bei einer Präsentation von Zwischenresultaten oder zu einem Dankesapéro, wenn ein Etappenziel erreicht wurde.
Du sprichst gerne von der Nachhaltigkeit von Ergebnissen von Citizen-Science-Projekten. Was bedeutet dies im Hinblick auf die Rolle von Bibliotheken?
Ich meine mit Nachhaltigkeit in diesem Zusammenhang die langfristige Verfügbarkeit der Resultate von Citizen-Science-Projekten. Forschungsgruppen, die in einer Projektlogik organisiert und finanziert sind, haben ein strukturelles Problem, ihre Ergebnisse über die Projektlaufzeit hinaus zu sichern. Bibliotheken als stabile Institutionen mit einer langfristigen Perspektive haben hier eine Chance und Verpflichtung zugleich. So wie sie publizierte Forschungsresultate und neuerdings auch Forschungsdaten von professionellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sammeln, bewahren und dauerhaft verfügbar machen, können und sollen sie in Zukunft auch mit Resultaten von Citizen-Science-Aktivitäten verfahren.
Erstellt am 1. November 2023