Dieser Beitrag basiert auf der Veranstaltung Science after Noon: Open Science Meets Citizen Science der Akademien der Wissenschaften Schweiz (a+) vom 11. Februar 2025. Die Vortragenden und Beitragenden zu diesem Blog (v.l.): Tizian Zumthurm (Science et Cité), Michael Jutzi (InfoFlora), Chantal Britt (Long Covid Schweiz), Stefan Wiederkehr (Zentralbibliothek Zürich), Olivia Denk (a+).
Gemeinsam für eine offene Wissenschaft
«Open Science steht für das Paradigma, wissenschaftliche Forschung, Daten und deren Verbreitung für alle Ebene einer forschenden Gesellschaft und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen», wie swissuniversities schreibt. Die Entwicklung zur Offenen Wissenschaft kann als die vielleicht wichtigste Veränderung in der aktuellen akademischen Kultur betrachtet werden. Die Schweiz hat 2021-2024 mit dem Programm Open Science I ein hochschulpolitisches Kooperationsprojekt umgesetzt, das sich in die nationalen Strategien zu Open Access und zu Open Research Data gliederte. Der zweite Teil des Programms beschränkt sich aufgrund der Sparmassnahmen des Bundes momentan auf das Jahr 2025 und soll zusätzlich den «Open-Science-kompatiblen Wissens- und Technologietransfer zwischen den Hochschulen und relevanten Akteuren aus Wirtschaft und Gesellschaft» fördern. Unsere Citizen-Science-Projekte können dazu als Inspiration dienen und zeigen zugleich, dass Wissenschaft auch ausserhalb der Hochschulen stattfindet.
Die UNESCO Recommendation on Open Science von 2021 definiert vier Hauptpfeiler von Open Science: offenes wissenschaftliches Wissen – hierunter fallen unter anderem Open Access und Open Research Data -, offene wissenschaftliche Infrastrukturen, offener Dialog mit anderen Wissenssystemen, und offene Einbindung gesellschaftlicher Akteure – hier ist Citizen Science spezifisch erwähnt.
Die Einbindung gesellschaftlicher Akteure findet in Citizen-Science-Projekten oftmals auf individueller Ebene statt: Man kann als Einzelperson mitmachen. Dabei hat Citizen Science – historisch bedingt – zwei unterschiedliche Hauptanliegen: Erstens, eine Demokratisierung der Wissenschaft, damit diese die Anliegen aus der Bevölkerung aufnimmt und mit ihnen gemeinsam Projekte durchführt. Zweitens, eine Mitarbeit der Bevölkerung in Forschungsprojekten, um Wissen und/oder Daten zugänglich zu machen, die sonst nicht verfügbar wären und gleichzeitig das Verständnis für wissenschaftliche Prozesse bei den Teilnehmenden erhöhen soll.
Für beide Anliegen ist Offenheit – spezifisch von Forschungsdaten - von zentraler Bedeutung. Der Umgang mit Open Research Data ist in verschiedenen Citizen-Science-Projekten gezwungenermassen unterschiedlich, weil sich die Ziele unterscheiden und sich so auch unterschiedliche Fragen und Herausforderungen stellen, die unterschiedliche Herangehensweisen erfordern. Das wollen wir an drei erfolgreichen Beispielen aufzeigen.
Open Science in der Citizen-Science-Praxis
InfoFlora ist das Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora. Sein Herzstück ist die Datenbank zur Verbreitung von wildwachsenden Pflanzenarten in der Schweiz. Es finden sich dort knapp 16 Million einzelne Fundmeldungen, zu einem grossen Teil eingetragen von Privatpersonen. Im Jahr 2024 lieferten Citizen Scientists über eine Million Meldungen, was ungefähr 65 Prozent der neuen Daten ausmachte. Diese können anonym oder mit Personennamen eingegeben werden. Sie können zudem wählen, ob Fundort und Funddatum auf der Plattform gerundet oder präzise angezeigt werden sollen. Damit ist der Persönlichkeitsschutz gewährleistet. Es ist möglich, die Weitergabe der präzisen Fundangaben für Forschung und Naturschutz zu erlauben. Das wird dann durch eine Nutzungsvereinbarung geregelt. Öffentlicher Zugang zu präzisen Funddaten für invasive Neophyten ist bereits verfügbar. Ab 2026 soll dies auch für die übrigen Arten ermöglicht werden (mit Ausnahme von besonders sensiblen Arten).
Die Patientenorganisation Long Covid Schweiz mit ihrem Citizen Science Board (aktiv vom Juli 2021 bis Juni 2022) wurde von Betroffenen unter anderem deswegen gegründet, weil es kaum Daten zum Krankheitsbild gab und vorhandene für sie nicht zugänglich waren. Für Betroffene ist relevante Evidenz jedoch wichtig, weil sie eine neuartige Erkrankung legitimieren kann, deren Sichtbarkeit erhöht und relevante Forschung ermöglicht. Das Projekt hat eine Forschungsagenda definiert, die sich an den Bedürfnissen der Betroffenen (anstatt an denjenigen der Forschung) orientiert und die auf andere Krankheiten übertragbar ist. Die Erforschung wirksamer Therapien sowie Datenerhebung bei Kindern und Jugendlichen wurden unter anderem als Prioritäten identifiziert. Long Covid Schweiz zeigt mit seiner Arbeit, dass der Besitz von Daten mit Macht einhergeht und dass der offene Zugang zu Daten die Basis für wissenschaftliche Projekte bildet und Menschen mit Erfahrungsexpertise ermächtigt.
Die Zentralbibliothek Zürich (ZB) versteht Citizen Science als strategisches Handlungsfeld mit der eigenen Sammlung als zentralem Bezugspunkt. Als Gedächtnisinstitutionen ist die ZB nicht auf konkrete Forschungsprojekte ausgerichtet, sondern auf die dauerhafte Bereitstellung von Quellen und Daten für hauptamtlich Forschende und Citizen Scientists. In den letzten vier Jahren hat die ZB eine Reihe von Citizen-Science-Projekten initiiert. Man konnte unter anderem alte Karten georeferenzieren, historische Dokumente transkribieren oder kollaborativ schreiben. Ausgangspunkt sind immer Dokumente, die im Open Access verfügbar sind. Im Projekt «Zürcher Familiengeschichte» beispielsweise entzifferten die Citizen Scientists ein zentrales, aber nur als handschriftliches Unikat vorliegendes biografisches Nachschlagewerk zur älteren Geschichte Zürichs und wandelten dieses in maschinenlesbaren Text um. Als technische Grundlage diente das Transkriptionstool der Plattform e-manuscripta.ch, der kooperativen nationalen Plattform für digitalisierte handschriftliche Quellen aus Schweizer Bibliotheken und Archiven. Die neuen Daten, das heisst die Transkriptionen der Citizen Scientists, werden wiederum nach Open Science-Prinzipien auf e-manuscripta.ch veröffentlicht.
Vielfalt als Chance
Die hier vorgestellten Projekte unterscheiden sich beträchtlich mit Blick auf Thematik, Partizipationsgrad und Herangehensweise sowie die Aktivitäten der Citizen Scientists. So sind auch nicht alle Citizen-Science-Projekte gleichermassen von den gleichen Herausforderungen betroffen. Diesbezüglich ist die einheitliche Metadatengebung zu nennen, welche grenzüberschreitende Forschung vereinfacht. Im Bibliothekswesen oder in der Biodiversitätsforschung gibt es einigermassen etablierte internationale Standards. Dagegen waren viele der Daten zur Covid-Pandemie kaum brauchbar, weil kaum vergleichbar.
Auch die Frage «wem gehören die (offenen) Daten» beantworten die Projekte anders: Bei InfoFlora haben die Nutzenden das Recht, ihre Daten zurückzuziehen. Long Covid Schweiz arbeitet nur mit Forschenden, wenn die Betroffenen mitreden können, wie die Daten verwendet werden. Für die ZB stellt sich die Frage so nicht, weil sie im gesamten Projektzyklus nur mit offen verfügbaren Daten arbeitet und sich das Recht zur Veröffentlichung der neu erstellten Daten mit einer offenen Lizenz bei der Registrierung in den Tools einräumen lässt.
Bei allen Unterschieden teilen sich die Projekte nicht nur die praktische und ideologische Offenheit, sondern auch einige Herausforderungen. Beispielsweise ist die Finanzierung oftmals nicht einfach, weil die Schweizer Forschungsförderung grundsätzlich davon ausgeht, dass Forschung an den Hochschulen passiert.* Dies erschwert auch die Anerkennung der Leistung von Citizen Scientists. Ebenso ist der Zugang zu und die Aufbewahrung von Forschungsresultaten sehr stark hochschulbasiert, was unter anderem die Nachhaltigkeit von Citizen-Science-Projekten und den dabei gesammelten Daten erschwert. Das Potenzial, das die stabilen Infrastrukturen der (Hochschul-)Bibliotheken bieten, wird in dieser Hinsicht noch nicht voll ausgeschöpft.
Eine gemeinsame Herausforderung für viele Citizen-Science-Projekte und für Open Science im Allgemeinen besteht also darin, in der Schweiz ein breites Bewusstsein zu schaffen, dass Forschung nicht nur «im Elfenbeinturm» an den Hochschulen stattfindet. Die Bedingungen für Open Science, für ein wirkliches Öffnen von Wissenschaft, können noch weiter verbessert werden. Durch die Öffnung von Forschungsprojekten mit Citizen Science und die konsequente Bereitstellung von offenen Forschungsdaten können wir einen Schritt in diese Richtung machen.
Veröffentlicht am 11. März 2025.
Die Videoaufnahme der Veranstaltung findet sich auf YouTube.
*Vielen Dank für diesen Input an Beat Immenhauser, Generalsekretär in Co-Leitung der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften.